Die Türkei - ein Land im Trauma

Kultur Nachrichten —

11, September. 2020 Freitag - 10:02

  • ALLE HUNDE STERBEN kann man nicht auf den Kurden-Türken Konflikt reduzieren, auch nicht auf einen einzelnen Militärputsch oder eine einzelne Ära. Es geht um viele verschiedene Opfer, aber um einen Täter: der türkische Staat.

Manî CÛDÎ


Buchempfehlung: ALLE HUNDE STERBEN von Cemile Şahin

Vieles, was man in diesen Jahren über Autoritarismus in der Türkei liest, ist auf Erdogan bezogen. Es geht oft um den zivilen Putsch, über die Islamisierung des Landes und seine Militäroperationen. Tatsächlich geht diese Realität aber auf historische Gegebenheiten zurück, die älter sind als er und seine Partei. Das Leben von Menschen, die diesen Autoritarismus nicht erst seit 2003 erleben, ist schon wesentlich länger von wiederholten Traumata geprägt, die Militär- und Polizeistaat auslösen. Das Leben solcher wird zu einem vollkommen zusammenhanglosen und kafkaesken Roman, gefüllt von einer Angst, die furchtlos ist und einer Trauer, die taub und gefühlslos ist.
So fühlt und hört der neue Roman der Künstlerin Cemile Şahins mit dem Titel „ALLE HUNDE STERBEN“ an. Die zutiefst traumatisierten Protagonist*innen des Buches sind verteilt über die Stockwerke eines Hochhauses im Westen der Türkei, irgendwie alle nah aneinander, gefühlt aber alle in einem eigenen Universum.

Ihre Kapitel wie Zeugenaussagen oder Plädoyers, in denen der/die Leser*in dazu gezwungen wird Rezipent*in von irritierenden und rabiaten Erzählungen zu werden, die in Sie-Form um Verständnis bitten. Erzählungen, so fürchterlich, aber auch so surreal, man weiß nicht, ob sie noch ganze Tatsachenbeschreibungen sind, oder eher einzelne Wiedergaben einer Seele, die nicht mehr greifen kann, was passiert ist und was noch passieren wird, oder wie die Protagonistin Sara sagt:
„WER DIE EREIGNISSE NICHT OHNE FIKTION
ERZÄHLEN KANN
HAT SIE NICHT ERLEBT
MEINT ES NICHT AUFRICHTIG MIT UNS
ES GIBT KEINE ANDERE ERKLÄRUNG
FÜR DIESE BILDER MEHR“

Gewalt wir zur Gewohnheit - Gewohnheit zum Alltag

Die Grausamkeit der Erzählungen kommt nicht von ungefähr: Anstatt sich auf ein einzelnes Trauma berufen zu können, sprechen die Protagonist*innen von einer Reihe undenkbarer Erniedrigungen, Verletzungen und Torturen.

So etwa Haydar, dessen Sohn vom Militär getötet wurde, der aber noch einen überlebenden Sohn hat, mit dem er vor dem Fernseher sitzt. Er kann mit dem Geschehenen nicht umgehen, er hat kaum verkraftet was passiert ist, ahnt aber schon die dunkle Zukunft: „Mein lebendiger Sohn fragte: Ist der Film zu Ende? Ich sagte nichts. Dann habe ich begriffen: Alles, was ich erlebt habe, werden meine Kinder erleben. Alles, was meine Kinder erleben, werden sie von früher wiedererkennen. Das wird zur Gewohnheit. Und die Gewohnheit wird zu einem Leben.“

Aber was für ein Leben? Ein Leben, wo Realität und Fiktion, wo Freiheit und Gefangenschaft, wo Leben und Tod so nah, fast schon überlappend sind, wie Metin feststellt, der frisch aus dem Gefängnis kommt: „Das Gefängnis ist für seine Insassen wie ein künstliches Koma. Man ist wach, aber dennoch aus dem Leben gerissen. Die Zeit steht irgendwie still. Du kannst nicht wirklich reden oder denken.“


Eine Reise ohne Namen und Zeit

Nun wird sich der/die Leser*in fragen: Wo spielt sich die Handlung des Buches genau ab und vor allem wann? Bis auf den westtürkischen Standort des Wohnhauses bleibt offen, wo die Erinnerungen der Protagonist*innen sich gesammelt haben. Die Zeit ist ebenfalls im Dunkeln. Geschichtlich gesehen ist diese Einordnung aber nicht nötig.
Von 1960 bis 2020 könnten die beschriebenen Geschehnisse von Hakkari bis nach Istanbul geschehen sein. Gerade das zeigt das Buch damit: die Türkei war immer schon so gestrickt, egal ob unter kemalistischer Militärjunta oder neo-osmanischem Sultanat. Auch die Ethnien und Religionen der Protagonist*innen nennt Şahin nicht. Baran und Sara könnten Kurden sein, Mahir und Haydar könnten Aleviten sein, Nurten und Murat könnten Türken sein. Als Kenner*in der Geschichte der Türkei kann man sich häufig seinen Teil denken.

So etwa in der Szene, in der der Onkel des Protagonisten Devrim kurz vor seiner Verhaftung zu seinem Bruder Eren sagt: „Wir sind deine Familie, vergiss das nicht. Vergiss nicht, wer wir sind“ und man sich an das Leid der Bevölkerung von Dersim erinnert fühlt, die von 1938 bis heute wiederholt Genoziden, mehrfacher Vertreibung und einer fast absoluten kulturellen Auslöschung Opfer wurden.

Wenn gesagt wird „Die Einheiten sagten: Das waren Terroristen. Aber wir wussten, dass es nicht stimmte. Sie sagten: Im Osten wohnt der Terror. Aber eigentlich meinten sie uns alle damit“, dann denkt man an den Krieg der Türkei gegen die Kurd*innen, egal ob in Sirnak in den 90ern oder in Sur im Winter 2015.

Şahin verzichtet auf Ort und Zeit nicht aus Angst, sondern aus der historischen Offensichtlichkeit, dass der türkische Autoritarismus seit der Republikgründung Staatsräson ist und Zeit- und Ortsunabhängig alle trifft, die sich diesem Autoritarismus zur Wehr setzen. Dabei ist es egal, wer man ist und welches Jahr man schreibt. 

Das Buch schreibt im Stil einer traumatisierten Person, doch nicht, weil es sich um einen posttraumatischen Zustand handelt, sondern weil das Trauma seit bald 100 Jahren andauert und genau diese Art des Traumas es ist, die gerade der Westen nicht versteht.

Viele Opfer und ein Täter = Der Türkische Staat

ALLE HUNDE STERBEN kann man nicht auf den Kurden-Türken Konflikt reduzieren, auch nicht auf einen einzelnen Militärputsch oder eine einzelne Ära. Es geht um viele verschiedene Opfer, aber um einen Täter: der türkische Staat. Im Buch berichtet der ehemals verhaftete Metin: „Ich habe mein Leben im Gefängnis gelassen. Ich vergesse nichts, das würde ich ihm gerne sagen, aber in Wahrheit rede ich bloß nicht darüber, wie viel ich weiß“. In diesem Sinne bleibt zu sagen: Sahin hat das Erinnern der Betroffenen gesammelt und schafft es ein zeitloses Werk zu erbauen, was zurecht wieder aufzeigt, dass es vor Erdogan nicht besser war und auch nach Erdogan nicht besser sein wird, wenn man in seiner Kritik des türkischen Staates nicht die radikale Basis dieses militarisierten Nationalstaates entlarvt und offenbart. Das schafft sie und daher ist ALLE HUNDE STERBEN ein Muss für alle die, die verstehen, dass die Vergangenheit sich in neuen Farben ewig wiederholen wird, wenn wir nicht ihr graues Gerüst dechiffrieren.

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