'Wer will was in Şengal?'

18, Dezember. 2020 Freitag - 11:11

  • Sozdar Avesta (KCK) beleuchtet im ANF-Interview die verschiedenen Positionen zu Şengal. Das ohne Einwilligung der ezidischen Bevölkerung vorgesehene Konzept entspricht in den Grundzügen dem Plan für ganz Kurdistan.

Sozdar Avesta, Mitglied im Präsidialrat der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), hat sich im ANF-Interview zur Situation im ezidischen Siedlungsgebiet Şengal und dem am 9. Oktober in Bagdad beschlossenen Abkommen geäußert. In dem auf Druck der USA und der Türkei unter UN-Aufsicht getroffenen Abkommen haben die südkurdische Regierungspartei PDK und die irakische Regierung die Zukunft von Şengal festgelegt und die Zuständigkeiten untereinander aufgeteilt. Die ezidische Selbstverwaltung soll einschließlich ihrer Verteidigungs- und Sicherheitskräfte aufgelöst werden.

Wie Avesta ausführt, handelt es sich bei dem Konzept um den gleichen Plan, der für ganz Kurdistan vorgesehen ist. Wir veröffentlichen einen kleinen Ausschnitt des Interviews, in dem es um drei Dimensionen geht: Was will die Bevölkerung von Şengal, was will der Irak und was macht die PDK?

Was will die Bevölkerung von Şengal?

Was die Bevölkerung von Şengal will, ist sehr eindeutig. An der ezidischen Gemeinschaft sind unzählige Massaker verübt worden. Die aufgerissenen Wunden sind noch sehr frisch. Daher lehnt sie das Abkommen ab, weil es ein weiteres Massaker bedeutet. Die Bevölkerung von Şengal hat sich seit 2014 verändert. Sie handelt bewusst und ihr ist klar, dass es momentan um ihre letzte Chance geht. Şengal braucht einen in der irakischen Verfassung garantierte Autonomiestatus, mit dem sich die Menschen selbst regieren und verteidigen können. Die irakische Verfassung lässt einen solchen Status zu. Die Bevölkerung von Şengal und die ezidische Gesellschaft kämpfen seit sechs Jahren dafür. 2016 haben sie der damaligen irakischen Regierung ihre eigenen Projekte zu diesem Thema vorgelegt.

Die Menschen in Şengal wollen keinen eigenen Staat gründen. Sie wollen sich nicht vom Irak loslösen und sie wollen auch keinen Landesteil besetzen. Alles, was sie wollen, ist ein Leben mit ihren eigenen Kräften und Werten. Der erlebte Schmerz soll sich nicht wiederholen. Als das Abkommen geschlossen wurde, ist die ezidische Gesellschaft nicht nach ihrer Meinung und ihrem Einverständnis gefragt worden. Die Bevölkerung von Şengal hat sich trotzdem verantwortungsbewusst verhalten und bringt ihre Forderungen mit demokratischen Methoden zum Ausdruck. Es sind etliche Abordnungen nach Bagdad gesendet worden, eine ist immer noch dort, um dieses Probleme im Dialog zu lösen.

Was will der Irak?

Die irakische Regierung hat trotzdem ein großes Truppenkontingent nach Şengal verlegt und diese Situation dauert weiter an. Die Regierung weiß, dass von den Eziden kein Schaden ausgeht, aber sie steht unter dem Druck des türkischen Staates und der PDK. Der Irak ist jedoch nicht gezwungen, diesen Drohungen nachzugeben. Wenn er sich den Drohungen gegen ein Volk beugt, das bereits viele Massaker erleben musste, kann er seine bestehende Multi-Struktur nicht beibehalten. Ein Zusammenleben der verschiedenen Religions- und Glaubensgemeinschaften im Irak wird dann nicht mehr möglich sein. Die konfessionellen Konflikte werden sich vertiefen. Alle gesellschaftlichen Gruppen im Irak werden die Zentralregierung als Bedrohung wahrnehmen. Und im weiteren Verlauf wird der Irak zerfallen. Was Erdoğan heute in Şengal umzusetzen versucht, wird er morgen auch in Kerkûk, Mossul und Til Afer machen. Das gleiche gilt für Südkurdistan, das hat ja bereits begonnen. Die irakische Regierung will Şengal für den eigenen Machterhalt opfern. Damit kann sie sich jedoch nur selbst betrügen, mehr nicht.

Wenn sich ein Teil des Irak abspaltet, werden ihm mit der Zeit weitere Regionen folgen. In seiner aktuellen politischen und wirtschaftlichen Lage wird der Irak das nicht auffangen können und letztendlich unterliegen. Die ausländischen Mächte fordern Konzessionen vom Irak und eine Verbesserung der Beziehungen zur Türkei. Der Irak weiß, dass der türkische Staat den IS unterstützt. Er weiß, was in den letzten sieben Jahren stattgefunden hat und wie es zu der heutigen Situation gekommen ist. Und weil er es weiß, muss er seine politische Zusammenarbeit mit der Türkei in dieser Form beenden. Der Irak muss sich mit den Eziden auf eine strategische Übereinkunft einigen, bei der die Rechte des ezidischen Volkes berücksichtigt werden. Wenn der Irak dazu in der Lage ist, wird seine Position gegenüber den Drohungen des türkischen Staates und der PDK stärker. Er darf sich nicht auf diese Machenschaften einlassen und muss die bestehenden Probleme über einen Dialog lösen, indem er den Willen des ezidischen Volkes anerkennt.

Was will die von der Türkei gesteuerte PDK?

Die PDK hat den ezidischen Glauben gefangen genommen. Sie zeigt ihre Feindschaft gegenüber Şengal in offener Form. Ihren Willen hat sie der Türkei übergeben. Bei der aktuellen Politik der PDK handelt es sich um Methoden des faschistischen Spezialkriegsverständnisses von Erdoğan und Bahçeli. Die PDK verhält sich der Bevölkerung von Şengal und der ezidischen Gemeinschaft gegenüber feindlich. Ihren Willen hat sie niemals anerkannt. Sie hat dieses Volk einem Massaker ausgesetzt. Was damals nicht vernichtet wurde, soll anscheinend heute ein weiteres Massaker erleben. Die Eziden sollen verschwinden. Als Şengal vom IS besetzt wurde, ist die PDK geflohen und hat die Menschen im Stich gelassen. Die Befreiungsbewegung ist eingeschritten und hat das ezidische Volk gerettet. Anstatt sich darüber zu freuen, tut die PDK nach wie vor so, als ob sie es selbst getan hätte.

Der heutige Ministerpräsident Mesrûr Barzanî war damals Sicherheitsverantwortlicher der PDK und hat gesagt: „Wenn die PKK Şengal verlässt, besiegen wir euch innerhalb von zwei Stunden. Ihr könnt keinen Widerstand leisten.“ Diese Person denkt auch heute noch so über Şengal. Die PDK hat sich mit dem Abzug ihrer Kräfte aus Şengal im Frühjahr 2018 eindeutig positioniert. Der Bevölkerung von Şengal ist die Realität der PDK bewusst. Das wiederum will die PDK nicht wahrhaben. Sie will die in Dihok und Umgebung lebenden Eziden für ihre eigenen Interessen benutzen. Das Heiligtum Laleş befindet sich unter der Kontrolle der PDK. Sie hat alle ezidischen Werte dort sozusagen gefangen genommen. Ohne die Erlaubnis der PDK kann dort niemand beten.

Die Bevölkerung von Şengal agiert hinsichtlich einer ezidischen Einheit und des heiligen Êzîdxan sehr verantwortungsbewusst. Seit sechs Jahren leisten die Menschen Widerstand und zeigen einen unvergleichlichen Einsatz. Sie haben eine autonome Selbstverwaltung aufgebaut und regieren und verteidigen sich selbst. Sie wissen, dass niemand sonst sie vor Massakern schützt.

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